Die Flut hebt alle Boote, besagt eine alte Börsenweisheit. Bei einer Aktienrallye steigen demnach auch die Kurse von schwachen Unternehmen. An den Rohölmärkten ist derzeit eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Denn die Preise von russischem Rohöl, die durch eine vom Westen eingeführte Preisobergrenze gedeckelt werden sollten, ziehen aufgrund der derzeitigen Ölpreisentwicklung seit Wochen ebenfalls deutlich an. Aktuell ist es vor allem die Preisentwicklung der Ölsorte ESPO, die in der Ölbranche für Erstaunen sorgt. ESPO wird in Sibirien gefördert und über eine Pipeline an die Pazifikküste bei Wladiwostok gepumpt. Von dort aus ist es dann nur noch ein Katzensprung bis zum chinesischen Binnenland. ESPO ist eine Abkürzung für Eastern Siberia – Pacific Ocean Öl-Pipeline.

Russland wird zum größten Öllieferanten Chinas
Nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dauerte es gerade einmal zwei Monate, dann war Russlands Ölindustrie zum wichtigsten Rohöl-Lieferanten Chinas aufgestiegen. Bereits im Mai 2022 verkaufte Russland so viel Öl in das Reich der Mitte, wie noch nie zuvor. Hauptreiber dieser Entwicklung waren die Sanktionen des Westens, die die Einfuhr von russischem Erdöl und Erdgas in die USA und Ende des Jahres dann auch in die EU unterbanden.

Peking profitiert von hohen Öl-Rabatten
China wusste im letzten Jahr aus der Schwäche Russlands seinen Nutzen zu ziehen. Damit Peking russisches Öl aufkauft, wurde China von Moskau ein Rabatt von bis zu 35 Prozent auf den Weltmarktpreis gewährt. Die Zeiten billigen Öls scheinen für das Reich der Mitte nun aber erst einmal der Vergangenheit anzugehören. Die starke Nachfrage in China, die Konkurrenz durch indische Raffinerien und die Lieferkürzungen der OPEC+, haben dazu geführt, dass der Preis für die russische ESPO-Rohölmischung auf den höchsten Stand seit acht Monaten gestiegen ist. Damals war im Dezember das EU-Embargo für über den Seeweg abgewickelte Importe russischen Rohöls in Kraft getreten.

Zeit der Schnäppchenpreise für russisches Öl ist vorbei
Aktuell wird ESPO-Rohöl, das im September nach China geht, mit Abschlägen von nur 2 bis 2,50 US-Dollar pro Barrel gegenüber der Atlantiksorte Brent gehandelt, die bei rund 85 US-Dollar notiert. Im Vergleich dazu beliefen sich die Preisnachlässe für August-Lieferungen auf rund 4 US-Dollar pro Barrel. „Die Augustpreise waren bereits sehr hoch, aber wir waren schockiert, als wir sahen, dass die Angebote für Septemberladungen mit einem Preisnachlass von 2 US-Dollar begannen“, sagte eine Handelsquelle gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

60-Dollar-Preisobergrenze wird überschritten
ESPO wird damit seit geraumer Zeit über der von den G7-Staaten, der EU und Australien ebenfalls Anfang Dezember für russisches Rohöl eingeführten Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel gehandelt, da es die bevorzugte russische Mischung chinesischer Raffinerien ist. Die ESPO-Mischung ist leichter und weniger schwefelhaltig als die russische Premium-Mischung „Urals“, die normalerweise mit einem größeren Abschlag gegenüber Brent-Rohöl gehandelt wird. Dennoch bleibt ESPO-Öl trotz des jüngsten Preisanstiegs die günstigere Option für chinesische Raffinerien, da ähnliche Qualitäten aus Westafrika und Brasilien mit Aufschlägen gegenüber Brent-Öl gehandelt werden.

Ölexport via ESPO-Pipeline gewinnt an Bedeutung
Wenn die OPEC+-Gruppe das Angebot weiter reduziert, könnte der ESPO-Preis erneut steigen und den Abschlag auf etwa 1 US-Dollar pro Barrel verringern, sagte ein Ölhändler gegenüber Reuters. Angesichts dieser Entwicklung wird einmal mehr deutlich, dass die Angebotsreduzierung von Rohöl durch die OPEC und ihre Partner bei gleichzeitig steigendem globalen Ölbedarf die Ölpreisentwicklung zumindest kurz- und mittelfristig weiter nach oben treiben dürfte.

Vor fünf Handelstagen mussten Käufer für eine Tonne Gasöl (Vorprodukt von Heizöl und Dieselkraftstoff) noch 800 US-Dollar bezahlen, mittlerweile ist die 900-Dollarmarke in Schlagweite. Diese Entwicklung spiegelt sich am Dienstagmorgen auch bei den Heizölpreisen wider. Verbraucherinnen und Verbraucher im Bundesgebiet müssen heute im Schnitt voraussichtlich etwa +0,80 bis +1,50 Euro pro 100 Liter mehr bezahlen als gestern zu Wochenbeginn.


Source: Futures-Services